Shaftesbury: Über das Schöne und Gute

Shaftesbury: Über das Schöne und Gute
Shaftesbury: Über das Schöne und Gute
 
Das Denken der Aufklärung zielte stets auch auf die Moral - selbst dort, wo dies nicht erklärte Absicht war - und reagierte damit auf das Erbe einer unmoralischen Politik und Religion. Es ergab sich aber auch aus der für den gewöhnlichen Bürger offensichtlichen Unmöglichkeit, selbst politische Verantwortung zu tragen. Die unglaublichen Missstände der Willkürherrschaft der Hofschranzen und Mätressen, der schamlosen Bereicherung und Verschwendung sowie des kirchlichen Gewissenszwangs riefen zuerst nach moralischen Kategorien des Urteils, ehe die politische Unfähigkeit sowie die selbstzerstörerische ökonomische und administrative Ineffizienz sichtbar werden konnten. Das Primat der Moral galt auch für das literarische und ästhetische Urteil bis zur Entstehung einer autonomen Kunstkritik, die eigene Begriffe entwickelte, und selbst für Grundbegriffe des physikalischen Weltbildes; Newtons absoluter Raum war - noch - Bedingung eines einheitlichen religiösen Weltbilds und blieb Bedingung eines einheitlichen moralischen Weltbilds.
 
Tiefer jedoch als die Moral reichte für die prägenden Denker der Aufklärung das Schöne. Die astronomische Revolution der europäischen Neuzeit hatte damit begonnen, dass Nikolaus Kopernikus das heliozentrische Weltbild gegenüber dem geozentrischen durch Schönheit ausgezeichnet fand; darauf erst folgte die mathematische und später, von anderen, die physikalische Begründung. Der Begriff der Schönheit, wie ihn Leibniz und Shaftesbury verwendeten, war ein dynamischer Begriff schöpferischer Energie. Shaftesbury vor allem war es, der durch sein Leben und seine Schriften vorbildlich für das Jahrhundert wirkte und die Gegenwart nach der Barbarei der unmittelbaren Vergangenheit an klassischen Autoren und Werken zu einem sicheren Geschmack bilden wollte. »Trachtet zuerst nach dem Schönen, und das Gute wird euch von selbst zufallen« - dieser Imperativ ist Ausgangspunkt und Vollendung seiner Ethik.
 
Dazu musste er sich von Locke, nach dessen Grundsätzen er selbst erzogen worden war, und dessen Bestreitung der angeborenen Ideen lösen; ohne angeborene Ideen wäre alles Verhalten nur wechselnden Moden und Gewohnheiten unterworfen, Shaftesbury wollte es aber als zeitübergreifende Konstante verstanden wissen. Und ganz von selbst näherte er sich den Gedanken, die Leibniz erörterte; beide ließen sich von den gleichen Autoren der Antike und der Renaissance inspirieren, insbesondere von Platon und von den Platonikern der Renaissance. Aus diesen Quellen bezog Shaftesbury die Kraft, die Anschauung des Kosmos und der Natur im Ganzen mit der Gestaltung des Lebens in Beziehung zu setzen. Nicht ein Fertiges, sondern ein lebendiges Werdendes ist dem Menschen aufgegeben: sein Leben wie ein Werk der Kunst zu formen und die Welt zu erkennen. Dazu bedarf es der Mühe und der Arbeit ebenso wie des Talents; dazu muss der Mensch sich erziehen und bilden.
 
Die konstatierte Einheit des Guten und des Schönen erforderte die Lösung von der sensualistischen Auffassung des äußeren Sinnenreizes als Grundlage der Erkenntnis. Wie das ästhetische Urteil sich am Schönen, so muss das moralische Urteil sich am Guten schulen, um das Zerstörerische vom nur Eigennützigen und das Eigennützige vom Gemeinwohl zu unterscheiden. »Aufklärung« hieß ja, über eine große Zahl klarer, nämlich »aufgeklärter« Begriffe zu verfügen; und Urteilskraft bedeutete, den Gemeinsinn, der allen Menschen wie das Sprachvermögen verliehen sei, durch Erfahrung, Reflexion und Einsicht zum freien und vollkommenen Gebrauch auszubilden. Shaftesbury ging es zunächst darum, das Lächerliche, Scherz und Spott zum Prüfstein der Wahrheit zu machen. Denn noch bevor religiöse Schwärmerei, eigennützige Bereicherung, Herrschsucht, Habgier und Zügellosigkeit mit moralischen Kategorien als Unrecht erkannt werden können, wirken sie schon lächerlich und abstoßend.
 
Es liegt nahe, dass die politischen Mächte, die den Menschen in Abhängigkeit halten wollten, an dieser Auffassung des selbstbestimmten Individuums Anstoß nahmen. Die Erziehung zur Freiheit setzt die Freiheit schon voraus; ihr Maßstab ist die Autonomie, ihr Mittel die Förderung jener Fähigkeiten, durch die sich der Mensch in die Lage versetzt, zum Künstler seines eigenen Lebens zu werden. Dazu muss er das in sich hervorbringen, was man in Gesellschaft wie in den Künsten Geschmack und Takt nennt. Shaftesbury erachtete es als lächerlich, verantwortliches Handeln der Kasuistik von Juristen und Theologen auszuliefern, die nur feststellen konnten, was im Einzelfall verboten oder zu tadeln sei, aber keine Aussage darüber machten, wie ein Mensch würdig und schön handeln könne. Was zunächst wie der harmlose Spaziergang eines edlen Geschöpfs in den Streitfragen des Jahrhunderts aussah, erwies sich bei genauerer Betrachtung als von innerer systematischer Kraft durchbildet. Leibniz bemerkte 1710 mit Freude die Übereinstimmung seiner »Theodizee« mit Shaftesburys ein Jahr zuvor erschienener »Rhapsodie«: Die Schönheit der Welt ist nicht eine begrenzte Eigenschaft neben dem Übel und dem Hässlichen, sie ist der Gesamtbegriff kontrastierender Gegensätze, die zusammen erst eine allgemeine Harmonie bilden. Ihr philosophisches Weltbild erlaubte keine Trennung von Oben und Unten, Innen und Außen, Diesseits und Jenseits; der Mensch und seine Gattung sahen sich als verletzbare Glieder in einem wirkenden Ganzen. Die Anschauung dieser Vollkommenheit des Ganzen mit den Augen der Liebe und Begeisterung lässt die göttliche Schönheit erkennen.
 
Die ästhetische Fundierung der Ethik zielte also auf ein umfassendes Verständnis der Welt. Ein neues, von Begeisterung getragenes Naturgefühl drang von hier aus in die Herzen der Menschen des 18. Jahrhunderts. Der bei Spinoza theoretisch erlernte Pantheismus gewann Geist und Gefühl bei Shaftesbury. Das Vertrauen des Menschen in sich selbst, in seine Fähigkeiten des Erkennens und Handelns, erhielten hier einen ungeheuren Aufschwung: Shaftesbury wirkte damit auf Diderot, Moses Mendelssohn, Wieland, Herder und Goethe, aber auch auf Thomas Jefferson. Die noch einmal aus der Gesamtansicht der Natur erschaffene Welt der Erkenntnis ist daher auch Erkenntnis des Schönen - und somit wiederum Antriebskraft für die sittliche Handlung. Nicht als Summe ist daher die Einheit des Schönen und Guten zu sehen, sondern als immanente Zielvorstellung der Aufklärung schlechthin.
 
Daran orientierten sich die besten Köpfe, und die anderen versuchten wenigstens einen Teil davon auszuführen. Seine Gedanken, von Shaftesbury in einem hymnischen Stil dargestellt, arbeitete er jedoch nicht auf dem Boden der verwandten Metaphysik von Leibniz aus, sondern noch mit den unzureichenden Begriffen des Empirismus. Daraus ergaben sich Inkonsequenzen in der Darstellung, die Francis Hutcheson in seiner »Untersuchung vom Ursprung unserer Vorstellungen von Schönheit und Tugend« 1726 und in seiner Nachfolge die Philosophen der schottischen Schule zu bereinigen suchten. Sie setzten einen moralischen Sinn im Menschen voraus, der so universal wirke wie die Gravitation in der Natur, aber sie konnten ihn nicht begründen und nur seine Nützlichkeit bekunden. Die ästhetischen Untersuchungen dieser Schule differenzierten die psychologischen Beobachtungen, die sich aus der Wirkung von Kunstwerken auf den Menschen ergeben, aber sie verloren die produktive Energie des Schönen aus den Augen. Shaftesburys Intentionen wurden daher erst von Diderot, von Goethe und Karl Philipp Moritz wieder aufgenommen und vollendet.
 
Prof. Dr. Horst Günther
 
 
Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Wolfgang Röd. Band 8: Die Philosophie der Neuzeit, Teil 2. Von Newton bis Rousseau. München 1984—89.
 Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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